Wunibald Müller, Leiter des "Recollectio-Hauses", im SZ-Interview
Herr Dr. Müller, was ist von Seiten der Kirche nach dem Missbrauchsskandal im vergangenen Jahr geschehen?
Wunibald Müller: Die Kirche hat sich auf einen Weg der Erneuerung begeben. Im Bereich sexueller Missbrauch Minderjähriger durch kirchliche Mitarbeiter sind wichtige Initiativen in die Wege geleitet worden und Beschlüsse gefasst worden, die deutlich machen, dass die Kirche es ernst meint, wirklich zuerst die Opfer sexuellen Missbrauchs zu sehen und alles zu tun, zum Beispiel auch durch Präventionsmaßnahmen, um in Zukunft sexuellen Missbrauch in ihren eigenen Reihen zu verhindern.
Wie soll mit den Priestern umgegangen werden, die Minderjährige sexuell missbraucht haben?
Müller: Liegt bei einem Priester, der Minderjährige missbraucht, eine pädophile Veranlagung vor, darf er zum Schutz möglicher Opfer nicht länger in der Seelsorge eingesetzt werden, gegebenenfalls auch nicht länger einer priesterlichen Tätigkeit nachgehen. Priestern, bei denen mit Hilfe der besten uns heute zur Verfügung stehenden diagnostischen Möglichkeiten festgestellt werden kann, dass sie nicht pädophil veranlagt sind und es sich bei ihrem Fehlverhalten um ein einmaliges regressives Verhalten handelt, das unter anderem auf Defizite im Bereich der Intimität zurückzuführen ist, kann im Einzelfall nach erfolgreicher Psychotherapie auch eine klar umgrenzte priesterliche Tätigkeit möglich sein. Diese Vorgehensweise ist schwieriger zu handhaben als die Nulltoleranz-Lösung, wonach jemand, der sich einmal sexuell missbräuchlich verhalten hat, nie mehr als Seelsorger oder als Priester tätig sein kann. Sie berücksichtigt aber die jeweilige Situation der einzelnen Priester, deren Vergehen nicht beschönigt werden darf, die aber auch nicht einfach abgeschoben und abgeschrieben werden dürfen.
Was steht noch an?
Müller: Weit mehr als bisher müssten die sekundären Opfer Beachtung finden, zu denen die Mitbrüder des missbrauchenden Priesters, die Gemeinde, in der der Täter wirkte, und dann natürlich die Gläubigen selbst gehören. Für die Gläubigen ist oft eine Welt zusammengebrochen. Für sie ist es wichtig, durch diese Krise spirituell zu wachsen, etwa durch die Erkenntnis, dass die Kirche niemals mit Gott verwechselt werden sollte. Sie sollen an Gott glauben mittels, dank und trotz der Kirche.
Welche weitergehenden Konsequenzen ergeben sich aus dem Missbrauchsskandal?
Müller: Das betrifft vor allem Themen wie Klerikalismus, Sexualität, Homosexualität, Zölibat, die Rolle der Frau in der Kirche und die Glaubwürdigkeit der Kirche. Diese Themen müssten offener und energischer angegangen werden. Die spirituellen Konsequenzen, die sich aus dem Missbrauchsskandal ergeben, sind noch nicht vollzogen worden. So steht ein wirklicher Läuterungsprozess, der am Ende die Kirche und ihre Verantwortlichen demütiger, wahrhaftiger und damit glaubwürdiger macht, weiterhin aus.
Öffentlicher Vortrag zum Thema "Sexueller Missbrauch in der Kirche", Freitag, 29. Juni, 19.30 Uhr, Stadthalle Lebach. Es spricht Dr. Wunibald Müller, Leiter des Recollectiohauses der Abtei Münsterschwarzach, der viele Jahre Erfahrung in der Therapiearbeit mit Tätern und Opfern hat, und Bücher zum Thema veröffentlicht hat.
Quelle / Saarbrücker Zeitung, 16.06.2012