"Mein Standpunkt" aus dem Kölner Stadt Anzeiger von Prof. Becker
"Sexueller Missbrauch ist Seelenmord"
"Professor Dr. Werner Becker lebt und arbeitet in Köln. Er ist Zahnmediziner und Heilpraktiker. Werner Becker, selber Missbrauchs-Opfer, nimmt Stellung zu den Vorfällen in Erftstadt und zu Pfarrer Jansen.
Was sich in Erftstadt abgespielt hat, seitdem am 1. Februar Missbrauchsvorwürfe gegen den Pfarrer der katholischen Gemeinde, Winfried Jansen, laut geworden sind, hat mich als Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Geistlichen bis an die Grenze des Erträglichen aufgewühlt. Ich habe von Solidaritäts-Gottesdiensten gelesen, von Unterschriftenlisten und heftiger Kritik am Erzbistum Köln. Aber da ging es nicht um das mutmaßliche Opfer, sondern um eine Verteidigung des mutmaßlichen Täters und um die Sorge vor einer Vorverurteilung. Ich habe auch Bilder von brennenden Kerzen gesehen. Die waren mit dem Konterfei von Pfarrer Jansen versehen. Da hat sich mir fast der Magen umgedreht! Ich habe an das kleine Mädchen gedacht, das - heute längst erwachsen - sein Schweigen bricht und über Dinge redet, die es seinerzeit als schrecklich erlebt haben muss. Sind wir uns nicht inzwischen einig, dass sexueller Missbrauch Seelenmord ist? Und dass kein Außenstehender sich ein Urteil anmaßen darf, ob die Vergehen "schlimm" oder "harmlos" waren.
Ich weiß, wovon ich rede. Durch ein streng katholisch geprägtes Elternhaus war ich mit den kirchlichen Begriffen von Ethik und Moral gleichsam imprägniert. Ein Priester war eine Autorität ohne Wenn und Aber. Absolut unangreifbar. Jedes Wort der Kritik an einem Priester, gar der Vorwurf eines Verstoßes gegen die Sexualmoral, wären ein bestrafungswürdiges "Delikt" gewesen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was ich über die sexuelle Gewalt hinaus, die mir vom Direktor eines katholischen Internats angetan wurde, noch alles hätte erdulden müssen, wenn ich mich damals als Missbrauchsopfer "geoutet" hätte. Schweigen war Überlebenstaktik.
Deshalb weiß ich, wie leicht es den Tätern im kirchlichen Raum gemacht worden ist, sich an Schutzbefohlenen zu vergehen. Seit 2010 der systematische Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg
der Jesuiten bekannt gemacht wurde, haben wir alle - nicht nur Katholiken, sondern die ganze Gesellschaft - genügend Gelegenheit gehabt, uns mit Täterbiografien und -strategien auseinanderzusetzen oder mit dem begünstigenden Einfluss, den kirchliche Strukturen hatten. Es will
mir einfach nicht in den Kopf, dass eine Pfarrgemeinde das alles ausblendet - vor lauter Sympathie für "unseren tollen Pfarrer" und mit dem sattsam bekannten Das-kann-doch-alles-gar-nicht-sein-Reflex. Wie sträflich falsch das war, ist binnen kurzem offensichtlich geworden: Inzwischen haben sich noch zwei weitere mutmaßliche Opfer gemeldet. Und wer weiß, ob es die letzten gewesen sind. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie schwer den beiden Frauen das gefallen ist. Sie mussten nämlich nicht nur innere Hürden überwinden, sondern auch die Barriere namens "Täterschutz", die von der Pfarrgemeinde aufgerichtet wurde. Ich bin froh, dass das zumindest in meiner Zeitung zu lesen war, aber offenbar auch bei Teilen der Gemeinde in Erftstadt angekommen ist. Erinnerungen und Bilder, die in meinem Inneren eingegraben waren und dort tiefe Risse hinterlassen haben, sind jetzt wieder einmal an die Oberfläche gekommen. Sie verursachen bis heute tiefen Schmerz. Uns, den Opfern, ist die Fröhlichkeit der Jugend genommen worden, ein Stück Urvertrauen zu anderen Menschen. Unbeschwertheit ist ein Begriff aus fernen Welten. Durch ein ganzes Leben zieht sich die Spur der Angst und des Verdrängens. Und all das deutet nur an, was jedes einzelne Opfer als Last lebenslang mit sich herumträgt. Das in einer öffentlichen Debatte auszublenden grenzt für mich an Mittäterschaft. Für die Solidaritätskundgebungen der vergangenen Wochen sollten Organisatoren und Teilnehmer deshalb um Entschuldigung bitten. Ich wünsche mir das für die mutmaßlichen Opfer des Pfarrers, aber auch für andere Geschädigte, nicht zuletzt für mich selbst. Ich weiß, dass ich für viele Opfer spreche, wenn ich sage: Wir fühlen uns geradezu hingerichtet durch ein unreflektiertes Verhalten von Menschen, die ihr leuchtendes Bild vom Täter partout nicht verdunkelt sehen wollen und dabei vergessen, was dieser Kindern - unserem kostbarsten Gut - im Schutze seines Amtes und des kirchlichen Raumes angetan hat.
Mir persönlich tut es in der Seele weh, miterleben zu müssen, dass Priester erst unter dem Druck der Enthüllungen zugeben, was sie getan haben. Wie das Erzbistum Köln vorgegangen ist, halte ich für absolut korrekt - und die Anschuldigungen, namentlich gegen Kardinal Rainer Woelki, für haltlos. Auch ihm gegenüber wäre ein Zeichen der Reue angebracht.
Bleibt für mich eine bescheidene Empfehlung an die Gemeinde: Machen Sie einen Neuanfang! Bauen Sie neues Vertrauen auf! Trotz allem, was mir widerfahren ist, ist mir klar, dass Priester das Vertrauen ihrer Gemeinden brauchen und es in den allermeisten Fällen auch verdienen. Nur mit blindem - ich möchte fast sagen, blindwütigem - Vertrauen ist niemandem geholfen. Mit einer Ausnahme: den Tätern. Das aber kann niemand von uns wollen."
PROF. WERNER BECKER Quelle: Kölner Stadt Anzeiger
Quelle: "Kölner Stadtanzeiger", Print-Ausgabe vom 24.02.2015
Hintergrund zu Werner Becker (Interview, "domradio.de", 28.01.2015)