Jahrelang wird eine Minderjährige von einem katholischen Pfarrer missbraucht – drei Jahrzehnte später macht sie sich auf ihre Weise Luft
Von Hans Holzhaider
Würzburg – Zum Aufruf vor dem Zivilrichter Peter Müller am Landgericht Würzburg kommt die Sache Fromm gegen Weiß (Namen geändert). Johannes Fromm, 70, katholischer Pfarrer im Ruhestand, will Claudia Weiß, 40, verbieten lassen zu behaupten, er habe sie sexuell missbraucht oder sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen. Ferner soll es, fordert der Kläger, Frau Weiß verboten werden, zwei Schreiben des Missbrauchsbeauftragten und des Generalvikariats des Bistums Würzburg, in denen auf diesen sexuellen Missbrauch Bezug genommen wird, zu verbreiten oder an Dritte weiterzuleiten.
Die Vorgänge, die Gegenstand dieser Verhandlung sind, liegen fast 30 Jahre zurück. Claudia Weiß war damals zwölf. Ihr Vater war vier Jahre zuvor bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen, die Mutter lebte mit Claudia und ihren beiden jüngeren Geschwistern allein in R., einer kleinen Gemeinde in Unterfranken. Dort war Johannes Fromm Pfarrer. Gelegentlich lud er die Kinder ein, im Pfarrhaus zu übernachten. „Wir mochten ihn“, sagt Claudias jüngerer Bruder. „Wir hatten den Eindruck, er wollte nett zu uns sein.“
Als Pfarrer Fromm auf eine neue Pfarrstelle im Spessart versetzt wurde, entschloss sich Claudias Mutter, als neue Haushälterin mit ihm ins Pfarrhaus zu ziehen. Jedes der Kinder bekam dort ein eigenes Zimmer. Aber es gab auch ein Gästezimmer mit einem Doppelbett, „und dort“, erzählt Claudia Weiß, „durfte ich am Wochenende mit ihm zusammen übernachten.“ Die Mutter wusste das und war einverstanden. Dort habe es dann begonnen, sagt Claudia Weiß. Der Herr Pfarrer, den sie auf seinen und der Mutter Wunsch „Papa“ nennen musste, habe sie am ganzen Körper gestreichelt, auch zwischen den Beinen. Er habe ihr gesagt, sie habe ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Unterleib, das müsse geheilt werden, damit sie später eine glückliche Ehe führen könne. Auch wenn die „Familie“ in Urlaub fuhr, habe der Pfarrer mit ihr in einem Doppelzimmer übernachtet. Sie habe sich nicht dagegen wehren können. Die Mutter war ihr keine Hilfe. Der Pfarrer-Papa habe ihr gedroht, wenn sie das harmonische Familienleben störe, müsse er die Mutter entlassen. Er habe ihr auch verboten, mit anderen darüber zu reden. „Die Presse macht aus allem etwas Schmutziges“, habe er gesagt. „Das ging so, bis ich 15 oder 16 war“, sagt Claudia Weiß. „Dann habe ich zu ihm gesagt, das geht jetzt nicht mehr, das fällt unter das Zölibat.“
Viele Jahre habe sie geschwiegen, sagt Claudia Weiß. Eine Partnerschaft ging in die Brüche. Erst 15 Jahre später, nach einer Fehlgeburt, sei es ihr so schlecht gegangen, dass sie eine Psychotherapie begann, da habe sie dann zum ersten Mal darüber gesprochen. Dann ging sie zur Polizei und zeigte den Pfarrer Fromm an. Sie schrieb auch an die Kirche. Von der Staatsanwaltschaft wurde ihr mitgeteilt, die geschilderten „Tathandlungen“ erschienen glaubhaft, könnten aber nicht mehr verfolgt werden, weil sie verjährt seien. Der Personalchef der Diözese Würzburg, der Domkapitular Heinz Geist, lud sie zu einem Gespräch ein, aber es kam nichts dabei heraus. Die Sache sei nicht aufklärbar, sagte der Kirchenmann.
Zehn Jahre später, als plötzlich im ganzen Land über Fälle von sexuellem Missbrauch in der Kirche diskutiert wurde, schrieb sie noch mal an das Bistum Würzburg. Dort war inzwischen Klaus Laubenthal, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Würzburg, als Missbrauchsbeauftragter eingesetzt worden. Laubenthal kannte den Namen des Pfarrers Fromm aus den Akten. Der war inzwischen nicht mehr im kirchlichen Dienst. Er hatte im Bayerischen Wald eine Art christliches Ferienheim eingerichtet, den „Johanneshof“, wo die Gäste zu Bibelstunden, Besinnungswochenenden und meditativen Wanderungen eingeladen werden. Laubenthal bestellte Fromm zu einem Gespräch ein. In diesem Gespräch, so teilte Laubenthal jetzt Claudia Weiß mit, „hat Pfarrer Fromm mir gegenüber zugegeben, an Ihnen im Kindesalter sexuelle Handlungen vorgenommen zu haben“. Kurz darauf erhielt Claudia Weiß auch Post von Karl Hillenbrand, dem Generalvikar des Bischöflichen Ordinariats Würzburg. Er teilte mit, auch ihm gegenüber habe Fromm „zumindest Übergriffigkeiten Ihnen gegenüber eingeräumt“. Der Pfarrer sei daraufhin in den Ruhestand versetzt worden mit der Auflage, die Leitung des Johanneshofs abzugeben und keine Aktivitäten mehr durchzuführen. Ferner habe das Bistum Regensburg dem Pfarrer Fromm ein öffentliches liturgisch-pastorales Wirken untersagt. „Als Zeichen der Hilfe und der Anerkennung Ihrer Situation“ habe er eine Zahlung von 8000 Euro an Claudia Weiß veranlasst.
„Das hat mich wirklich umgehauen“, sagt Claudia Weiß. Nun hatte sie es ja schwarz auf weiß, dass die sexuellen Übergriffe des Pfarrers nicht ihrer Phantasie entsprungen waren, und sie wollte dieses Wissen nicht für sich behalten. Sie fertigte etliche Kopien der beiden Schreiben und verschickte sie an Personen aus dem Umfeld des Pfarrers und an Mitglieder des Freundeskreises des Johanneshofs, die sie im Internet fand. „Ich hatte eine solche aufgestaute Wut“, sagt sie. „Ich war wie ein Dampfkessel.“
Das wollte sich Pfarrer Fromm aber nicht bieten lassen, und deshalb sitzt man nun hier vor dem Richter Peter Müller am Landgericht Würzburg. Eine gütliche Einigung ist gescheitert. Der Sachverhalt muss ermittelt werden. Als Zeuge erscheint Professor Klaus Laubenthal, der Missbrauchsbeauftragte des Bistums. Er hat selbst einen Kommentar zum Sexualstrafrecht verfasst, er ist auch Richter am Oberlandesgericht Bamberg – einen seriöseren Zeugen kann man sich schwerlich vorstellen.
Laubenthal berichtet von dem Gespräch, das er mit Pfarrer Fromm geführt hat. Er hat davon ein Protokoll gefertigt. Darin heißt es wörtlich: „Ich habe Claudia am ganzen Körper und auch an der Scheide gestreichelt, da war sie 12, 13, 14 Jahre alt. Das sollte entsprechend einem damaligen Artikel in der Zeitschrift ,Psychologie heute‘ eine Therapie gewesen sein. Sie war dabei aber nicht nackt.“
„Hat er weitere Details genannt?“, fragt der Richter.
„Konkreter ist er nicht geworden“, sagt Laubenthal. „Er hat Vorwürfe erhoben, gegen das Bistum, dass man ihm im Priesterseminar nicht beigebracht habe, dass man so etwas nicht tun dürfe.“
„Sind Ihnen weitere Fälle bekannt geworden?“, fragt der Richter.
„Einspruch“, ruft der Anwalt des Pfarrers. „Das tut hier nichts zur Sache.“
Richter Müller sieht das anders. „Die Frage ist zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich“, entscheidet er. „Bitte, Herr Laubenthal.“
„Ein Priester aus dem norddeutschen Raum wirft Pfarrer Fromm ebenfalls sexuellen Missbrauch vor“, berichtet der Zeuge. „Er gibt an, er habe als Jugendlicher Pfarrer Fromm aufgesucht, weil er den Wunsch hatte, Priester zu werden. Er habe im Pfarrhaus übernachtet. Fromm sei in das Zimmer gekommen und habe gefragt, ob er sich zu ihm ins Bett legen dürfe. Er habe gesagt, zur Vorbereitung auf den Priesterberuf müsse er zuerst Liebesfähigkeit erwerben. Dann habe das Streicheln angefangen. Er erinnere sich deutlich an den erigierten Penis des Pfarrers. Fromm habe gesagt: ,Wir sind in der Liebe des Heiligen Geistes verbunden‘. Als ungeheuerlich habe er es empfunden, dass der Pfarrer in dieser Situation gebetet habe.“
Nun meldet sich Johannes Fromm selbst zu Wort. „Das ist alles absurd falsch“, sagt er. Der Priester, der diese Vorwürfe erhoben habe, habe ihm damals gestanden, dass er homosexuell sei. Er habe ihm daraufhin erklärt, dass er dann leider nicht Priester werden könne. Darüber sei der junge Mann sehr betrübt gewesen. „Ich habe mit diesem Mann niemals körperlichen Kontakt gehabt“, sagt Pfarrer Fromm. Und was Claudia Weiß angehe: Wenn der Professor Laubenthal behaupte, er habe ihm ein Protokoll vorgelesen, dann sei das eindeutig die Unwahrheit. Erst zwei Jahre später habe ihn der Generalvikar Hillenbrand aufgefordert, das Protokoll zu unterschreiben. „Ich habe gesagt: Das ist alles falsch. Ich habe nie gesagt, dass ich sie an der Scheide gestreichelt habe, sondern am Unterleib.“
„Sie haben aber dann doch unterschrieben“, sagt der Richter.
„Ich hab’s unterschrieben, weil ich in Eile war. Ich musste zum Zug“, sagt Pfarrer Fromm.
An dieser Stelle hält es Richter Peter Müller für angebracht, die vorläufige Meinung des Gerichts mitzuteilen. „So, wie es sich im Moment darstellt, sieht es nicht sehr rosig aus für die Erfolgsaussichten der Klage“, sagt er. Er stelle anheim, ob sich der Kläger vielleicht noch einmal mit seinem Anwalt beraten wolle.
Die Beratung nimmt einige Zeit in Anspruch. Schließlich kommen der Pfarrer und sein Anwalt wieder in den Sitzungssaal. „Mein Mandant legt großen Wert auf die Feststellung“, sagt der Anwalt, „dass jegliches Handeln zu keiner Zeit vor einem sexuellen Hintergrund erfolgt ist. Gleichwohl erklärt er, zur Befriedung der Situation, die Rücknahme der Klage.“
Süddeutsche Zeitung 06.06.14 / print