Pressemitteilung München / Trier, 14. Dezember 2012
Wir sind Kirche zur Studie „Sexuelle Übergriffe durch katholische Geistliche in Deutschland“
Die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche warnt eindringlich davor, die am 7. Dezember 2012 in Trier vom Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Stefan Ackermann, vorgestellten Ergebnisse der von Prof. Dr. Norbert Leygraf geleiteten Studie als Entwarnung für die Kirche zu interpretieren.
Der inhaltlich sehr eingeschränkte Ansatz dieser Meta-Studie konzentriert sich lediglich auf die Täter und ignoriert völlig die psychischen Auswirkungen auf die viel zahlreicheren Opfer. Vor allem entbehrt er einer Analyse des Versagens der Bistumsleitungen bis in die allerjüngste Zeit. Dem weltweiten immensen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust der römisch-katholische Kirche werden die statistischen Auswertungen (à la Kinsey-Report) und ihre Interpretationen in keiner Weise gerecht und können somit auch nicht die von Bischof Ackermann gewünschte „neue Qualität in der Debatte um den Umgang mit Tätern im kirchlichen Bereich“ erbringen. Statt sich auf die einzelnen Täter zu konzentrieren, müssten die begünstigenden Kirchenstrukturen der römisch-katholischen Kirche (klerikaler Machtmissbrauch, Verständnis von Sexualität, Priesterausbildung und -auswahl sowie das Fehlverhalten der Ordinariate) kritisch überprüft werden.
Nach Auffassung der KirchenVolksBewegung, die zwischen Sommer 2002 und Ende 2011 mit einem eigenen Not-Telefon mehr als 400 Betroffene beraten und begleitet hat, werfen die bislang veröffentlichten Ergebnisse dieser Studie mehr neue Fragen auf, als dass sie Fragen beantworten.
- Wie repräsentativ kann eine Untersuchung sein, die nur die vergleichsweise geringe Zahl von 78 Tätern umfasst und deren Vorauswahl von den Bistümern getroffen wurde? Warum waren nur 21 der 27 deutschen Bistümer bereit, sich an der Studie von Prof. Dr. Leygraf zu beteiligen? Wie sieht es mit den Ordensgemeinschaften aus? Der Stillstand der vor mehr als einem Jahr von der Bischofskonferenz mit dem Hannoverschen Kriminologen Prof. Dr. Christian Pfeiffer vereinbarten Untersuchung lässt vermuten, dass es kirchlicherseits kein wirkliches Interesse gibt, die Gesamtzahlen über die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in Deutschland umfassend zu ermitteln.
- Wie realistisch ist die in der Studie vertretene Schutz-These – des Missbrauchs verdächtige Geistliche, die weiter in der Kirche blieben, könnten durch ein soziales Kontrollnetzwerk vor Rückfällen geschützt werden – angesichts des fahrlässigen, fehlerhaften und hilflosen Umgangs der Bistumsleitungen in jüngster Zeit in Hildesheim und auch in Trier, dem Bistum von Bischof Dr. Ackermann?
- Bischof Dr. Ackermann, der im Januar 2012 eine gravierende Fehlhandlung eingestehen musste, und alle anderen Bischöfe müssen sich fragen lassen, wie glaubwürdig Sie sich für die von sexualisierter Gewalt Betroffenen einsetzen können, da Sie gleichzeitig Dienstvorgesetzte der klerikalen Täter sind. Auf diesen unvermeidbaren Interessenkonflikt hat die KirchenVolksBewegung von Anfang an hingewiesen und fordert weiterhin unabhängige Ombudsstellen.
- Wurde sichergestellt, dass eine klare Trennung zwischen den ursprünglichen Therapeuten der Täter und den Bearbeitern diese Meta-Studie vorgenommen wurde?
- Warum wird in dieser Studie und durch die Bischöfe immer noch derverharmlosende Begriff „sexueller Missbrauch“ verwendet, der in der Fachwelt seit Langem obsolet ist. Richtigerweise muss von „sexueller Misshandlung“ oder „sexualisierter Gewalt“ gesprochen werden.
Die von Prof. Dr. Norbert Leygraf im Auftrag der deutschen Bischöfe geleitete Analyse forensischer Gutachten der Jahre 2000 bis 2010 scheint das Ziel zu haben,die sehr komplexe Problematik kleinzureden und das Problem kleinzurechnen. Anhand der Gutachten-Analyse von nur 78 Tätern kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass es innerhalb der katholischen Geistlichen nicht mehr psychiatrische Störungen und sexuell abweichende Präferenzen als in der männlichen Gesamtbevölkerung gibt. Die weitaus meisten sexuellen Übergriffe von Priestern geschähen aus Gründen, die sich „dem normalpsychologischen Bereich zuordnen lassen und nur in wenigen Fällen Folge einer spezifischen Psychopathologie waren“. Nur die wenigsten katholischen Priester, die sich sexuell an Minderjährigen vergehen, seien im klinischen Sinn pädophil.
Übrigens: Auch die Glaubenskongregation, der Kardinal Ratzinger 2001 die Zuständigkeit für schwere kirchenrechtliche Vergehen zugewiesen hat, hatte im März 2010 mit weltweiten Zahlenangaben von nur 300 Fällen von Pädophilie „im eigentlichen Sinne“ argumentiert, dass „das Phänomen nicht so verbreitet sei, wie einige glauben machen wollen“. Doch allein schon die Zahlen aus den USA und Irland ließen damals die vatikanischen Angaben wenig glaubhaft erscheinen.
Dass für mehr als vier Fünftel der 78 untersuchten Geistlichen ein weiterer Gemeinde-Einsatz der Priester eingeschränkt oder ohne Bedenken empfohlen war,wirft die dringende Frage auf, ob die im August 2010 von der DBK überarbeiteten Leitlinien der von Papst Benedikt XVI. geforderten Null-Toleranz-Politik gegenüber straffällig gewordenen Priestern entsprechen. Den überarbeiteten deutschen Leitlinien nach – die übrigens, anders als Bischof Dr. Ackermann ausführte, für den einzelnen Bischof nicht verbindlich sind – sollen straffällig gewordene Personen nicht mehr in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden (Punkt 42), dürfen aber ansonsten unter gewissen Voraussetzungen (Punkt 43 bis 47) weiterhin als Priester in der Seelsorge arbeiten.
Wie die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, haben sich angesichts der Täterprofile auch „Auflagen“ und Kontrollen der Dienstvorgesetzten oft nicht als wirksam erwiesen, sondern Kinder und Jugendliche großen Gefährdungen ausgesetzt. Wir sind Kirche unterstützt die Forderung nach einer unabhängigen Kommission zur Aufdeckung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche und nach einer Melde- und Anzeigepflicht bei sexueller Gewalt und damit eine Überprüfung der Vorwürfe durch staatliche Stellen. Darüber hinaus fordert Wir sind Kirche wie viele andere die Aufhebung der Verjährungspflicht, da Opfer oft erst nach Jahrzehnten ihr Schweigen brechen können.
Leider mehren sich die Zeichen, dass die im Jahr 2010 auf dem Höhepunkt der Aufdeckung jahrzehntelanger Vertuschung sexualisierter Gewalt eingeleiteten Maßnahmen schon wieder zurückgefahren werden. Die von der Bischofskonferenz im Jahr 2010 eingerichtete bundesweite Telefon-Hotline „Hilfe für Opfer sexuellen Missbrauchs“ wird zum Jahresende 2012 eingestellt mit dem Argument, dass es jetzt Beauftragte in den einzelnen Diözesen und bei den Ordensgemeinschaften gibt. Doch es ist nicht hinnehmbar, dass in einzelnen Diözesen immer noch Mitglieder der Bistumsleitung als Ansprechpersonen für Betroffene angegeben werden.
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Quelle: Wir-sind-Kirche.de