Donnerstag, 15. November 2018

Bistum Trier: Theologische Anmerkungen zur Missbrauchsstudie von Jutta Lehnert


Theologische Anmerkungen zur Missbrauchsstudie

Die Studie stellt (im Abschnitt „Typologie beschuldigter Kleriker“) als drei Grundmuster vor: „fixierter Typus mit der pädophiler Präferenzstörung“, „narzisstisch-soziopathischer Typus“ und „regressiv-unreifer Typus“ - die in dem besonderen Machtgefüge der Kirche eine begünstigende Struktur für Übergriffe gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen vorfinden...Die Frage nach dem Zölibat zu stellen oder den zugrundeliegenden Klerikalismus zu kritisieren, ist richtig, greift aber dennoch zu kurz. Deshalb ist eine theologische Intervention notwendig, die in die Tiefe geht:

Zum Ausgang nehme ich eine kleine Geschichte, die ein betroffener Zeuge vor kurzem erzählt hat: 
Er sucht und findet immer wieder Opfer desselben Priesters, der auch ihn damals missbraucht hat. Dabei ein Mann, heute über 60 Jahre alt. Er will nach Trier, seinen Fall melden. Vorher fährt er bei seiner alten Mutter vorbei. Die fragt, was er in Trier vorhabe. Als er erzählt hat, dass er sich als Opfer dieses Priesters melden will, sagt sie: Dann brauchst du mein Haus nicht mehr zu betreten.
Diese Geschichte enthält im Grunde alles, was sich im Jahrhunderte alten Abhängigkeitsverhältnis zwischen Gemeinde und Priester angereichert hat….

  1. Das idealisierte Priesterbild und die Folgen für die Gläubigen und Gemeinden
Die Spaltung von Gemeinden in diejenigen, die sich weigern, unbequeme Wahrheiten zu akzeptieren und diejenigen, die die das geschehene Unrecht erkennen wollen, lässt auf eine vielfältige Abhängigkeitsstruktur schließen, die endlich zu kritisieren ist. Der Priester wird zur unhinterfragbaren Projektionsfläche von Gläubigen, auf den Sehnsüchte nach Vollkommenheit, spiritueller Tiefe und einem „reinen“ Lebenswandel projiziert werden. Er gilt als absolute Vertrauensperson, ausgestattet mit der Macht, Sünden zu vergeben und einer Unmittelbarkeit zum „lieben Gott“, über die „normale“ Gläubige nicht verfügen. Die schnell vergessene Beschreibung eines anderen Verhältnisses zwischen einem priesterlichen, königlichen und prophetischem Volk Gottes und seiner Kirchenleitung, die sich in den Texten des zweiten vatikanischen Konzils finden lassen, konnte an diese verinnerlichten Denk- und Handlungsmuster der alten Vorstellungen nicht rühren. So blieb bis heute erhalten: Der Solitär im Pfarrhaus, zu dem die Gläubigen aufblicken, und der Sonntag für Sonntag durch die symbolische Sprache der Rollenaufteilung im Gottesdienst diese Sicht immer wieder neu bestätigt. Ihm traut man keine Lüge und keine Gewalttat zu, darf es auch gar nicht, denn das ist im idealisierten Priesterbild nicht vorgesehen. In dieser Atmosphäre gedeihen Gefälligkeitszustimmungen und ein „regressiver Katholizismus“, dem zunehmend die Tiefe abhandenkommt. Dass immer weniger Männer sich weihen lassen, hat ihre empfundene Besonderheit nur verstärkt (deshalb nimmt auch der Missbrauch in den letzten Jahren nicht ab…). Das sind keine guten Voraussetzungen für die kritische Wahrnehmung von Abhängigkeiten und unguten Zusammenhängen. Das ist auch keine Atmosphäre, in der Mut und Zuversicht wachsen können. Ein Mitgefühl mit Opfern sexualisierter Gewalt wird immer wieder überlagert von alten Bildern und droht an der Oberfläche zu bleiben. Dass mit ihrem Schmerz die Herzmitte Jesu getroffen ist, kann nur noch schwer erfasst werden. Hier hat sich die Institution an den Gemeinden versündigt: Spirituelle und pastorale Verdummung sind die Folgen, Abstumpfung der eigenen Wahrnehmung und des Gewissens; schwer nachvollziehbar in einer Institution, der es nach eigenem Bekunden immer auf die Gewissensbildung der Gläubigen ankam. Die moralische Verwirrung einer Gemeinde kann eine schwerwiegende Folge sein, die auch Auswirkungen hat in gesellschaftlichen Fragen.

  1. Theologische Deutungsmuster des Priesterbildes und ihre psychologischen Folgen:
Die verengte Interpretation des Kreuzestodes Jesu als Opfer – nicht Victim, sondern Sacrificium - (in verschärfter Form: Vom Vater gefordert!) hat im Rahmen einer „imitatio-Christi-Spiritualität“ für Priester eine Opferideologie hervorgebracht, die einen Verzicht auf die Entwicklung des Selbst, eine Grundhaltung der Unterwürfigkeit und psychische Abspaltung produzieren kann.
Jesu Kreuzestod als Opfer zu interpretieren ist nur eine Sicht in der Frühzeit der ersten Gemeinden und Zeichen für das Ringen um die Annahme dieser in seiner Konsequenz ihm aufgezwungenen Folter und Hinrichtung. Er ist zudem nur zu verstehen im Rahmen einer jüdischen Märtyrertheologie des 1. Jahrhunderts – aber keinesfalls als Interpretationsmuster für später oder sogar für heute.
Die Fehlübersetzung von Hebr 5,1 „ex anthropon lambanomenos“ als „aus den Menschen auserwählt“ hatte verheerende Wirkung (Das „set above“ und „set apart“ des geweihten Amtsträgers – nach Lüdecke) – es bedeutet aber ganz einfach „aus den Menschen genommen“. Der erste Fehler besteht darin, diesen Text über den Hohenpriester, der die Opfer darbringt und mit dem Jesus Christus gemeint ist, auf die jetzigen Priester anzuwenden. Der zweite Fehler besteht in der falschen Übersetzung, die eine Überhöhung des Priesterstandes nahelegt und zu Allmachtsphantasien anregt. Der dritte Fehler ist überhaupt, eine verengte Opfertheologie auf das Brot-Teilen in der Eucharistiefeier zu beziehen und den Priester mit der Idee zu belasten, er könne in seiner Person – also onthologisch - „Gott/Christus vergegenwärtigen“.
  1. Institutionelle Festlegungen und ihre psychologischen Folgen:
Es ist das Bild des idealisierten Priesters, das der Hierarchisierung eines Teils der Kirche zugrunde liegt. Dieses Bild braucht zur Stabilisierung und Weiterführung die Verbindung von Zölibat (Ausblenden der Sexualität), dem Ausschluss der Frauen (Ausblenden eines Teils der Wirklichkeit) und der zentralen Position des männlichen Priesters (Einzigartigkeit, Besonderheit). Den Zusammenhang rigide durchzuhalten kann narzisstische Störungen zur Folge haben. Er zieht schwache Persönlichkeiten an, denn es erspart ihnen die Auseinandersetzung mit sich selbst (auch mit ihrer Sexualität) und gewährt ihnen im Gegenteil, ihren Narzissmus unhinterfragt auszuleben und die ungute Verbindung von Gehorsam und Machterhalt. Es ist die geschützte und theologisch legitimierte Machtkonstruktion, die zu Übergriff und Gewalt verleiten kann. Einsamkeit, Mangel an Austausch mit Gleichaltrigen, Arbeitsüberlastung und Alkoholprobleme können das Ihrige dazu beitragen.
Dieses Priesterbild duldet keine Schuldzuweisung, das Ideal muss sogar gegen besseres Wissen durchgehalten werden. In diesem System bekommt ein bekannter Aphorismus von Friedrich Nietzsche eine besondere Schärfe: „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben- sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“ Wer Sklave seines eigenen Beherrschungswillens und seines ihm auferlegten Selbstbildes ist, ist nicht frei. Frei ist einer, der Selbstkritik, Mäßigung und Selbstkontrolle übt. Dass jeder Beschuldigte so gut lügt wie er kann, dass es Persönlichkeiten gibt, die hochmanipulativ sind und denen weder ein Bischof noch ein Therapeut gewachsen ist, diese Erfahrung kann nicht zur Geltung kommen, wenn die Aufklärung von außen fehlt.
Eine Anerkennung der institutionellen und persönlichen Schuldzusammenhänge würde das ganze sakral aufgeladene Machtsystem zusammenbrechen lassen. Die Folgen: Wer zu diesem System gehört und in ihm eine Funktion übernommen hat, muss Mitgefühl in der Tiefe abspalten. Selbst die unmittelbare Begegnung mit traumatisierten Opfern kann gegen diese Immunisierung nicht so an, dass es zu einer echten Infragestellung käme. Jeder Priester, der sexualisierte Gewalt angewendet hat, wird zuerst als Gefahr für dieses System angesehen – und nicht als Gefahr für weitere potentielle Opfer.
  1. Die übersehene, praktische Religions- und Priesterkritik Jesu…
findet sich im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Levit und Priester sind in der Reihenfolge genannt, in der sie Dienst tun. Es geht also um ein Regelwerk der institutionellen „Religion“. Sie kommen vom Dienst im Tempel, vom Gottesdienst – aber hat ihr Herz die Tora Gottes erfasst?
Sie verhalten sich konform, entsprechend ihrer Dienstaufteilung. (Biblischer Befund: Gesetze dienen nicht immer dem Leben, man muss sie notfalls brechen! Wie Abraham in Gen 22…)
Sie sind dem Tempel verbunden, er ist ein Symbol für versteinerte Strukturen (Gesetze, Ämter, Hierarchien, Ausbeutung, Verblendung…). Haben sie deshalb versteinerte Herzen…?
Die Frage nebenbei: Wieso üben versteinerte Strukturen Faszination aus (die Jünger Jesu in Mk 12 im Angesicht des marmorverkleideten Tempels…)?

Ihr Dienst ist vorbei – wirklich?
Religion muss sich in ihren Abläufen, Strukturen, Gewissheiten, Rollenfestlegungen, Gesetzen, Regelungen etc. immer irritieren lassen durch das Leiden eines Menschen
Wenn sie das nicht kann, dient sie dem Leben nicht mehr und hört auf, Gott zu bezeugen
Der Gottesdienst, dem Levit und Priester qua Amt verpflichtet sind, findet hier auf der Straße statt.
Und ausgerechnet einer, der als Gegner dieser Religion betrachtet wird, hat sie in ihrer Tiefe und ihrer Praxis erfasst – der Samariter.

Macht im weltlichen Sinn steht im Widerspruch zur Nachfolge Jesu: Mk 9, Der Rangstreit der Jünger. Die Amtsträger der Kirche verkaufen ihre Macht als Dienst…

Folgen wir weiteren Texten des NT, wird deutlich, dass es neben der grundsätzlichen Sündenvergebung böse Taten gibt, die weder durch menschliches Vergeben noch durch Wiedergutmachung auszugleichen sind, weil sie eine Verletzung der Weltordnung darstellen. Dazu zählt nach Auskunft der synoptischen Evangelien die Verführung von Kleinen und Schwachen: „Wer einen von diesen Kleinen, die auf mich vertrauen, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde.“ (Mk 9, 42). Die Frage nach der Schuld nicht offenzuhalten, sondern durch oberflächliches Vergeben an den Opfern vorbei zu schließen, birgt einen unermesslichen Schaden für die Gemeinschaft: Der Schmerz über das Unvergebbare und die Erinnerung daran kann das das nächste Böse verhindern. Die jesuanische Schärfe darf nicht aufgelöst werden etwa in Nötigung von Betroffenen/Opfern zur Vergebung oder oberflächlicher Therapie von Tätern.
Nur nebenbei: Auf die Sprache ist zu achten. Man kann „sich nicht entschuldigen“, sondern nur um Vergebung bitten und warten, ob sie gewährt wird. Auch Gebete, Gottesdienste, Buß- oder Fasttage usw. helfen da nicht, denn Gott vergibt nicht an den Opfern vorbei. Siehe Matthäusevangelium: „Wenn du deine Opfergabe vor den Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder , dann komm und opfere deine Gabe.“

Nur noch ein paar Stichworte zu dem,
  1. Was nun diskutiert und bearbeitet werden muss:
Neben der Infragestellung der Amtstheologie und des Selbst- und Fremdbildes von geweihten Amtsträgern und der grundsätzlichen Veränderung der Kirchenstrukturen müssen weitere theologische Fragen diskutiert werden. Daran ist das ganze Kirchenvolk zu beteiligen, denn auch hier sind Selbstkritik und neue Orientierung unverzichtbar geworden.
Die vielfältigen Formen von pastoraler Macht, denen „das Kirchenvolk“ seit Jahrhunderten ausgeliefert ist: symbolische Macht, Sprachmacht, spirituelle Macht, Entscheidungsmacht, Interpretationsmacht, finanzielle Macht, Bildungsmacht, strukturelle Macht sind kritisch zu durchleuchten und zu demokratisieren…
Die Männerbündische Grundstruktur muss entlarvt werden – und die Misogynie als Folge – durch die Texte des NT auf keinen Fall gedeckt – das wirft einen Blick auf die Ablehnung neuer Erkenntnisse der fem. Bibellektüre und Theologie – nebenbei: Frau und Mann sind gleich geschaffen, gleich erlöst – Bedeutung der MvM, der Grußliste in Röm usw. – Ausgrenzung der Frauen vom 2./3. Jhdt. an, als die Kirche sich anschickte, staatstragend zu werden
Die Studie nennt die Ablehnung von Homosexualität als strukturellen Beitrag – Kontextelle Bibellektüre, die den Text als Produkt seiner Zeit liest und das Zeitbedingte benennt, findet keinen Niederschlag in der Pastoral und Grundstruktur der Kirche – Homosexualität in der Antike war ein Herrschaftsverhältnis (alter Mann/Knabe) – heute ist Homosexualität ein Lebensentwurf – die Kirche nimmt Erkenntnisse der Humanwissenschaften nicht ernst – ein Zeichen dafür, dass die sie immer noch mit der Aufklärung hadert
Gehorsam als zentrale Struktur von unten nach oben – dazu gehört die organisierte Verantwortungslosigkeit von oben nach unten – „Rattenlinien“ – verbunden mit einer falschen (weltlichen) Vorstellung von Macht – die Macht Jesu ist von anderer Art: Seligpreisungen, die Macht der Solidarität der Kleinen…
Im Kirchenrecht ist Heiratsversuch eines Priesters ein größeres Vergehen als sexualisierte Gewalt (nach Lüdecke)…
Zu wenig sind in der Kirche die Stimmen der betroffenen Zeugen und Zeuginnen zu hören. Die Ursache ist zunächst die Scham, die sie durch Demütigung erfahren haben, aber auch ihr Glaubensverlust, der für viele die Gottesbeziehung getötet hat. Abgrenzung von Kirche und Gemeinden ist Teil der Selbstrettung. Hier eine offene Zuhör- und Gesprächskultur aufzubauen, wird eine sehr schwierige Arbeit sein, der sich die Kirche mit all ihren Kräften zu stellen hat.
Jeder Gottesdienst, jede pastorale Arbeit wird schal, wenn die Gemeinden in diesem Bemühen nicht bestärkt und begleitet werden.
Wer das Rechte kennt und nicht tut, verliert die Kraft und Fähigkeit das, was Recht ist zu kennen – und wer Kraft und Fähigkeit hat, Recht zu tun, aber unwillig ist, verliert die Kraft, seinem Gewissen zu folgen. Aus diesem Grund darf kein Täter mehr mit Aufgaben in der Seelsorge betraut werden.
Gleichzeitig ist das Kirchenrecht zu ändern: Sexualisierte Gewalt muss als besonders schwerwiegendes Verbrechen im CIC aufgeführt und ausgeweitet werden auf abhängige und schutzbefohlene Personen über 16 Jahren (CIC 1395 §2). Wer sich mit sexualisierter Gewalt an Kindern und Schutzbefohlenen vergreift, verliert in diesem Moment sein Amt (Kirchenrechtler Peter Landau).
Die Kirche steht vor einem Abgrund, der sich über Jahrhunderte vertieft hat. Die Kritik an der sexualisierten Gewalt durch Kleriker ist schon vor Jahrhunderten geäußert worden, beispielsweise von Mechthild von Magdeburg und Thomas Müntzer. Sie hatte aber in unaufgeklärten und undemokratischen Gesellschaften keine Chance durchzudringen. Heute treten die Widersprüche deutlicher zutage und auch der Mut, mit dem Menschen ihre Stimme erheben. Der Niedergang der Kirche scheint unaufhaltsam, wenn sie sich nicht endlich zu den grundlegenden Änderungen durchringt und eine Kirche im Geist Jesu wird: Eine in sich gerechte und solidarische Gemeinschaft an der Seite der Kleinsten und Schwächsten.

Jutta Lehnert



(Anmerkung Jutta Lehnert: Nach dem Vortrag meldete sich eine Zeugin, die Kritik am Bibelwort Mk 9 einbrachte. Sie sagte, sie sei nicht zur Sünde verführt, sondern vergewaltigt worden. Ich habe die Übersetzung von Mk 9,42 überprüft; das griechische Wort heißt „skandalise“ – wörtlich bedeutet das „zum stolpern bringen“. Es gibt vielfältige Übersetzungen an dieser Stelle: „Ärgernis geben“, „zum Abfall verführen“, „zur Sünde verführen“, „vom gerechten Weg abbringen“ usw., von denen einige nichts mit sexualisierter Gewalt zu tun haben. Einen kleinen Menschen (klein bedeutet im biblischen Sprachgebrauch wehrlos, unterlegen, ohnmächtig u.ä.) zum Stolpern zu bringen, bedeutet ihm etwas so Schlimmes zuzufügen, dass er fällt…Das ist in den Augen Jesu ein Vergehen, das nicht vergeben werden kann.)


Empfohlene Literatur:
Bischof Geoffrey Robinson, Macht, Sexualität und die katholische Kirche
Dieter Funke, Die Wunde, die nicht heilen kann