Donnerstag, 25. Juli 2024

Bistum Trier: Fakten aus dem Bericht "Sexueller Missbrauch in der Amtszeit von Hermann Josef Spital" - Teil 1

- > Ich veröffentliche die Fakten aus dem Bericht dosiert (in mehreren Teilen), da es auch für mich eine große Belastung darstellt, das alles zu lesen.


Veränderte Lebensschicksale - 

 Einblick in die meist langfristigen Schädigungen und Beeinträchtigungen, mit denen die ermittelten Betroffenen als Erwachsene zu kämpfen hatten und haben.


  • Wichtig ist, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen noch in den 1980er und 1990er Jahren in einer Gesellschaft lebten, die nur wenig Verständnis für die Beschädigungen aufbrachte, welche sexueller Missbrauch in der Psyche und der Physis von Kindern und Jugendlichen verursacht. Zudem besaßen nur wenige fundiertes Wissen über die langfristigen Folgen sexuellen Missbrauchs. Dies hat den Umgang aller  in diese Taten Verwickelten tiefgreifend geprägt – zu Lasten der Kinder und Jugendlichen. Ein Teil  der Betroffenen ist durch den sexuellen Missbrauch traumatisiert worden. Sie haben sich vor den gewalttätigen und angstauslösenden Geschehnissen, die ihr Selbst gefährdeten, geschützt, indem sie deren Spuren unzugänglich abspeicherten. Ihnen wurden erst viel später die Missbrauchstaten wieder bewusst, an deren Folgen sie bis dahin gelitten hatten. 
  • Eine Zahl mag diesen Zusammenhang verdeutlichen: Betroffene von Missbrauch zwischen 1980 und 2000 gehörten überwiegend Alterskohorten an, die zwischen 1970 und 1989 geboren worden sind. Nur bei 34  (!) von 172 ermittelten Personen dieser Altersgruppe wurden die Missbrauchsfälle zeitnah (sofort bis weniger als fünf  Jahre später) erkannt, viele der Betroffenen haben sich erst im mittleren und späteren Erwachsenenalter als Opfer von Missbrauchstaten selbst erkannt und dann anderen anvertraut.
  • Die Lebensschicksale dieser Menschen sind in ganz unterschiedlicher Weise und Härte vom sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit oder Jugend verändert worden. Missbrauchsfällen, die keine oder geringe körperliche, soziale oder psychische Beeinträchtigungen zeitigten, stehen die Fälle schwerer Beeinträchtigungen und langfristiger schwerer psychischer und körperlicher Leiden gegenüber.
  • Wir haben zum einen Betroffene ermittelt, die als Schülerinnen oder Schüler beziehungsweise Messdienerinnen und Messdiener Opfer einmaliger sexueller Übergriffe oder Grenzüberschreitungen durch Priester geworden waren. Wenn sie das Glück hatten, dass sie als Teil einer größeren Gruppe von Betroffenen noch in direkter zeitlicher Nähe zu den Übergriffen als Opfer identifiziert worden waren und dies zeitgenössisch zur Anzeige kam, sorgten strafrechtliche Verfahren, schützende Maßnahmen der Erwachsenen und kirchliche Maßnahmen wie Versetzung der Täter dazu, dass weitere Übergriffe gegen sie unterbunden wurden. Sie konnten beziehungsweise mussten zeitnah über den Missbrauch mit Eltern, Lehrern oder anderen erwachsenen Vertrauenspersonen sprechen. 
  • Vielfach konnten solche Kinder oder Jugendliche trotz ihrer Beschämung und ihres Schreckens ein normales Leben ohne größere Einschränkungen und Krankheiten führen. Dies gilt auch für eine kleinere Zahl von Betroffenen, die sich seit 2010 im Rahmen der kirchlichen Verfahren zur Anerkennung ihres Leids gemeldet haben und sich selbst als frei von langfristigen Schädigungen oder Erkrankungen erklärten. 
  • Diese „Resilienz“ hing von vielen weiteren situativen Umständen, aber auch günstigen Voraussetzungen ab, auf die die Kinder selbst aufgrund ihrer psychischen oder physischen Konstitution zurückgreifen konnten.
  • Viele der von uns ermittelten Betroffenen waren in ihrem weiteren Leben auf therapeutische Hilfe angewiesen. Sie profitierten davon, dass seit den 1990er Jahren Traumatisierungen durch sexuellen Missbrauch anerkannt und nach und nach in der Region gezielte traumatherapeutische Angebote für die Betroffenen bereitgestellt und von den Krankenkassen auch bewilligt und finanziert worden sind. Dabei handelte und handelt es sich oft um langjährige intensive Therapien, bei denen es neben der Behandlung der meist „komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung“ auch um die Linderung der daraus resultierenden psychosomatischen Beschwerden geht. Typisch waren und sind Depressionen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen bis hin zu „dissoziativen Identitätsstörungen“.
  • Besondere Belastungen bis hin zu lebenslangen Schädigungen erlitten Kinder und Jugendliche, die über längere Zeit durch Priester missbraucht worden sind und die von den Tätern gezielt und erfolgreich psychisch abhängig gemacht worden sind.
  • In der Amtszeit von Bischof Spital waren mehrere Täter im Kirchendienst tätig, die mal subtile, mal gewalttätige Strategien der Verführung und der Vereinnahmung entwickelten, um ihre Opfer (viele im Alter zwischen 9 und 16) über Jahre hinweg zu dienstbaren Objekten ihrer sexuellen Befriedigung zu machen. 
  • Die Situation der Kinder und Jugendlichen schildert exemplarisch ein Betroffener in einem Brief an das Bistum Trier. Er war zwischen 1982 bis 1987 im Alter von 11 bis 16 vom Pfarrer seiner Gemeinde sexuell missbraucht worden. Der Täter hatte ihn gezielt verführt und dann eng an sich gebunden, und sorgte umsichtig und gezielt für Orte und Gelegenheiten, um seinen sexuellen Missbrauch auszuleben. Leider kamen ihm bei seinem pädokriminellen Tun auch Amtsbrüder zur Hilfe, die über seine Körperkontakte zu dem Messdiener in ihrer Gegenwart hinwegsahen oder aber als Beichtväter die Ängste und Nöte des Jungen noch steigerten (!)  (Es folgen Zeilen aus dem Brief des Betroffenen, Anmerk. ca)
  • Für die Amtszeit von Bischof Spital haben wir mindestens 148 Personen ermittelt, die von solchen Intensivtätern missbraucht wurden und von denen viele beziehungsweise die meisten über mehrere Jahre anhaltenden sexuellen Missbrauch mit psychischer Abhängigkeit erlitten.

  • Für viele von ihnen war der Weg aus dieser Falle:
    • oft schwer und schmerzhaft,
    • er war begleitet von Schuldgefühlen, Suizidgedanken, Phasen schulischen Versagens, Zeiten intensiven Alkohol- oder Drogenkonsums.
    • Die Wege zu Schulabschlüssen und Berufswahl wurden länger, zuweilen auch weniger erfolgreich;
    • Partnerschaften waren für sie schwer, für einige unmöglich
    • Diffuse psychosomatische Beschwerden wurden typische Begleiterscheinungen ihres Erwachsenenlebens.
    • Die Gespräche mit Betroffenen zeigen immer wieder die vielen subtilen, aber nachhaltigen Beschädigungen, die sich gerade aus solchen mehrere Jahre andauernden Missbrauchsgeschehen ergeben haben.
    • Arbeitsunfähigkeit aufgrund dieser Beschwerden und Frühverrentungen aufgrund von Berufsunfähigkeit sind in den Akten immer wiederkehrende Folgen.
    • Für viele Betroffene haben die öffentliche Aufarbeitung und die konkrete Aufdeckung von Täterlaufbahnen dauerhaft entlastende Wirkung gezeigt, da sie nun die Täter benannt, die Gefahren für Kinder und Jugendliche heute bekämpft und die Anerkennung ihres Leids als einen meist kleinen Schritt zu später Gerechtigkeit, vor allem aber lebenspraktischer Hilfe und Unterstützung erfahren haben.

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Bei unseren Recherchen sind wir auch in den Betroffenen- und Zeitzeugenberichten auf drei Personen aufmerksam gemacht worden, die in zeitlicher Nähe zum erlittenen sexuellen Missbrauch Selbstmord begangen haben. Umstände und Hintergründe dieser Suizide können nicht mehr aufgeklärt werden. Sie werden an dieser Stelle unseres Berichts aber erwähnt, weil diese Extremfälle deutlich machen, welche tiefgreifenden seelischen Nöte und psychischen Schädigungen durch den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen entstehen konnten. 

Für diese Jugendlichen kam jede Hilfe zu spät.





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Viele der Betroffenen stammten aus katholischen Elternhäusern

Schließlich ist auf die religiösen Folgen einzugehen, die sexueller Missbrauch für die von uns ermittelten Betroffenen hatte. Von ihnen stammten viele aus katholischen Elternhäusern, die mehr oder weniger eng am Leben ihrer Gemeinde partizipierten. Immer wieder sind wir auf Berichte gestoßen, dass auch in den 1980er Jahren betroffene Kinder streng katholisch erzogen worden waren und ihre Eltern sexuelle Verfehlungen der ihnen bekannten Ortsgeistlichen schlichtweg leugneten beziehungsweise für undenkbar erklärten. 

So wurden diese Kinder Opfer von Tätern, die zu ihren Autoritäts- und Vertrauenspersonen zählten. Als Kinder und Jugendliche gehörten diese zum engeren zuweilen sogar zum engsten Kreis der in der katholischen Jugendarbeit Aktiven. Sakristeien, Pfarrhäuser, Wohnungen von Kaplänen und Pfarrern, Hotelzimmer bei Jugendfreizeiten wurden für sie zu Tatorten und die meisten verloren dort auch ihr Vertrauen in kirchliche Autoritäten. 

Einige gaben dann auch ihren katholischen Glauben auf beziehungsweise verloren ihn zusammen mit dem missbrauchten Vertrauen in katholische Priester. Aber auch wenn sie längst aus der Kirche ausgetreten waren, wandten sie sich nach 2010 angesichts der öffentlichen Empörung über die jahrzehntelange Vertuschung der Missbrauchsfälle an „ihr“ früheres Bistum, um dort wenigstens Anerkennung ihres Leids zu erwirken.

Dem steht die Gruppe derer gegenüber, die an ihrem katholischen Glauben festhielten, ja in einigen Fällen auch als Erwachsene sich weiter ehrenamtlich für kirchliche Aufgaben und Belange engagierten. Eine kleine Zahl schlug sogar kirchennahe oder kirchliche Berufskarrieren ein. Für sie alle war und ist ihr Heraustreten aus der Anonymität ihres persönlichen Leids zugleich auch ein Kampf für die Offenlegung der Versäumnisse der Verantwortlichen im Bistum und darüber hinaus um die moralische und organisatorische Erneuerung der katholischen Kirche geworden.